Physical Internet in der Logistik
Das Physical Internet ist das wohl ehrgeizigste Konzept in Richtung Effizienz und Nachhaltigkeit in der Transportlogistik. Es ist ein offenes globales System, das auf physischer, digitaler und operativer Interkonnektivität basiert und mit Hilfe von Protokollen, Schnittstellen und Modularisierung operiert. Es vernetzt somit Materialfluss und visualisiert ihn nach den Prinzipen des Internets (vgl. Quelle Logistikum). Damit steht es für eine weitreichende Umgestaltung von Güterverkehr und Logistik, und kann eine wesentlich effizienter Nutzung von Ressourcen ermöglichen.
Durch Vermeidung von Leerfahrten und bessere Auslastung der vorhandenen Kapazitäten können Kosten eingespart und Lieferzeiten verkürzt werden. Die gesteigerte Effizienz aller zur Verfügung stehenden Transportmittel führt zu einer Reduktion schädlicher Emissionen. Des Weiteren werden durch das Physical Internet (PI) die Arbeitsbedingungen für Beschäftigte im Transportgewerbe deutlich verbessert, indem einzelne FahrerInnen anstelle von langen Überlandfahrten durch die optimierte Abstimmung von Fahrtwegen eher kurze Abschnitte fahren müssen. Zusätzlich soll der Verkehr im städtischen Bereich reduziert werden, wodurch die Lebensqualität in diesen Regionen beträchtlich gesteigert wird (vgl. Forschungsforum der österreichischen Fachhochschulen 2018).
Seit dem letzten Jahrzehnt beschäftigt sich eine Vielzahl an Forschungsprojekten und Initiativen mit dem Physical Internet im Transportbereich und versucht die weitere Entwicklung dazu voranzutreiben.
Im Folgenden erfolgt ein Überblick über unterschiedliche Ansätze und Aspekte einer Reihe nationaler sowie europäischer Projekte, die geeignet sind einen Einblick in die Thematik zu geben.
Roadmap Physical Internet
Für die Vision des Physical Internet entwickelte das Projekt Sense, gefördert im Rahmen des H2020 Forschungsförderungsprogrammes, eine umfassende und detaillierte Branchen-Roadmap. Die Roadmap skizziert einen Weg von heute bis 2040 und zeigt wichtige Meilensteine, erforderliche Technologien und erste Implementierungsmöglichkeiten für das PI im Transportbereich. Darin wird erwartet, dass fortgeschrittene Pilotimplementierungen des Konzepts des Physikalischen Internets bis 2030 einsatzbereit und in der industriellen Praxis üblich werden und zu einer 30-prozentigen Reduzierung von Staus, Emissionen und Energieverbrauch im Verkehrssektor beitragen.
Die detaillierte Roadmap spricht unter anderem fünf zentrale und sich ergänzende Bereiche an. Sie beschreibt die erwarteten Entwicklungen im Bereich von Logistikknoten, von Logistiknetzwerken und dem System der Logistiknetzwerke, welche sich derzeit in einem "Generation 1"-Status befinden, um sie folgerichtig in PI-Knoten, PI-Netzwerke und das System der Logistiknetzwerke umzuwandeln. Diese drei Bereiche können sich unabhängig voneinander entwickeln und einen kurzfristigen Nutzen generieren. Ergänzend zu diesen drei Bereichen werden in der Roadmap die Themen Zugang und Einführung bzw. Akzeptanz sowie Governance erläutert.
Die fünf Hauptbereiche werden wie folgt beschrieben:
Logistikknoten
In Logistikknoten werden Waren verpackt, gelagert, umgewandelt oder von einem Transportmodus auf einen anderen umgeladen. Häfen, Flughäfen, Logistikknotenpunkte, Terminals, Lagerhäuser und Depots sind Beispiele für Logistikknoten. Das Physical Internet sieht die Entwicklung von Logistics Nodes zu Physical Internet Nodes vor, in denen die Abläufe standardisiert sind und die Verwendung von standardisierten modularen Ladeeinheiten weit verbreitet sind. Diese reichen von Seecontainern bis hin zu kleineren Boxen. Die Dienste in PI-Knoten sind sichtbar und digital zugänglich für die Planung, Buchung und Ausführung von Operationen.
Logistiknetzwerke
Logistiknetzwerke umfassen sowohl Logistikknoten als auch die Transportdienste, die jene Knoten verbinden und den Zielort der Sendungen bedienen. Dabei stehen Logistiknetzwerke unter der Kontrolle eines einzelnen Unternehmens (z. B. eines Verladers, eines Spediteurs oder eines Logistikdienstleisters), welches eine Wertschöpfungskette (d. h. KundInnen und Lieferanten) abdeckt. Von PI-Netzwerken wird erwartet, dass sie nahtlose, flexible und belastbare Tür-zu-Tür-Dienste aufbauen, die alle Sendungen innerhalb des Netzwerks konsolidieren und dekonsolidieren, wobei alle Wirtschaftsgüter, Dienstleistungen und Ressourcen sichtbar, zugänglich sind, um sie möglichst effizient zu nutzen.
System Logistischer Netzwerke
Ein System logistischer Netzwerke umfasst mehrere einzelne logistische Netzwerke. Diese Netzwerke sind miteinander verbunden, wodurch die Güter, Dienstleistungen und Ressourcen in den einzelnen Logistiknetzwerken durch verschiedene Eigentümer der Logistiknetzwerke zugänglich sind. Damit bildet es das Rückgrat des physischen Internets und erfordert sichere, effiziente und erweiterbare Dienste für den Fluss von Waren, Informationen und Finanzen über die Netze hinweg.
Zugang und Einführung
Der Bereich Zugang und Einführung beschreibt die wichtigsten Voraussetzungen für den Zugang zum Physischen Internet durch ein Logistiknetzwerk. Es beschreibt auch verschiedene Schritte und Denkweisen, die für Organisationen erforderlich sind, um Konzepte des Physical Internet zu übernehmen.
Governance
Governance umfasst die notwendigen Entwicklungen, um Physical Internet in Logistikknoten, Logistiknetzwerken und das System der Logistiknetzwerke zu implementieren. Darunter fallen einerseits Regeln, die von den jeweiligen Interessensgruppen und den NutzerInnen der Dienste definiert werden und andererseits vertrauensbildende Prozesse und Mechanismen, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass das PI zum Vorteil aller Interessengruppen funktioniert.
Physical Internet im Forschungsprogramm „Mobilität der Zukunft"
Die Projekte lassen sich anhand der vorgestellten 5 Bereiche der Sense Roadmap einordnen und adressieren damit vorwiegend die Funktionalität der jeweiligen Abschnitte. Die zeitliche Anrodung veranschaulicht zudem, dass einige Projekte aufeinander aufbauen. Nähere Infos zu den jeweiligen Projekten finden Sie in der FFG Projektdatenbank.
Leitprojekt PhysiCAL
- Verladeunternehmen und der Transportwirtschaft in Österreich ökonomische Vorteile und
- der österreichischen und europäischen Gesellschaft ökologischen und sozioökonomischen Nutzen bringt.
- StakeholderInnen und Stakeholder der Logistikbranche in Österreich sollen so zu (verstärkter) Kooperation animiert werden.
Die Demonstration erfolgt durch die Umsetzung von vier Piloten:
- Offene Transport-Management-Plattform
- Smarte Holzlogistik im Schienengüterverkehr
- Kooperatives Supply-Chain-Management 3.0 im E-Commerce
- Kooperative letzte KEP-Meile
Im Rahmen der vier Piloten wird ein digitaler Zwilling von Teilen des österreichischen Transportnetzwerks erstellt. Dieser digitale Zwilling lässt Prognose- und Optimierungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Netzwerknutzung und -gestaltung sowie zur Senkung von relevanten Treibhausgasemissionen zu. Weiters ermöglicht er eine synchromodale Transportplanung und verbindet somit verschiedene Transportnetzwerke unterschiedlicher Modalitäten. Darüber hinaus ist nach dem Projektende die Gründung eines Austrian Centre for Sustainable and Collaborative Logistics (ACSCL) geplant.
Das vom Forschungsförderungsprogramm Mobilität der Zukunft geförderte Projekt wird von der Fraunhofer Austria Research GmbH geleitet. Es startete im Juni 2020, die voraussichtliche Laufzeit beträgt 4 Jahre.
Links:
ATROPINE
Ein weiteres Vorhaben aus Österreich, das sich mit den Veränderungen der Logistikbranche rund um das Physical Internet beschäftigte, ist das Forschungsprojekt ATROPINE (Fast Track to the Physical Internet). Das Projekt verfolgte das Ziel, gemeinsam mit den Forschungs- und Unternehmenspartnern die Kräfte zu bündeln, um in Oberösterreich eine Physical Internet Modellregion zu schaffen. Teilbereiche davon betreffen zum Beispiel ′smarte′ Ladungsträger, die mit Transportmitteln und/oder Verladern und Transporteuren kommunizieren können und innovative Geschäftsmodelle, die die Idee einer ′Sharing Economy′ vorantreiben.
Das Projekt wurde vom Land Oberösterreich im Rahmen des Programms „Innovatives Oberösterreich 2020" gefördert und vom Logistikum der FH OÖ geleitet. Weitere Forschungspartner waren JKU, RISC Software GmbH, die Forschungsgruppe ′Heuristic and Evolutionary Algorithms Laboratory′ am FH OÖ Campus Hagenberg und der Verein Netzwerk Logistik (VNL). Das Projekt startete im Dezember 2015 und endete im Mai 2018.
Durch das Projekt ATROPINE erhalten Unternehmen und Forschungsinstitutionen im Wirtschaftsraum Oberösterreich die Möglichkeit bei den ersten im neuen Forschungsfeld ′Physical Internet′ dabei zu sein und Expertise aufzubauen.
Aber nicht nur in der nationalen, sondern auch in der internationalen Forschungslandschaft tut sich einiges: Weltweit beginnen sich Teams zu bilden, die, meist in enger Kooperation mit PartnerInnen aus der Industrie an unterschiedlichen Teilprojekten zu Physical Internet arbeiten.
Link: Infoblatt ATROPINE
ALICE - Alliance for Logistics Innovation through Collaboration in Europe
Auf europäischer Ebene wurde eine Technologieplattform (ETP) für Logistik namens ALICE im Jahr 2013 gegründet. Sie entwickelt umfassende Strategien für Forschung, Entwicklung und Innovation im Bereich Logistik und Supply-Chain-Management für Europa. Darüber hinaus unterstützt und berät sie die Europäische Kommission bei der Implementierung von Horizon 2020 und Horizon Europe im Bereich Logistik.
ALICE gründet auf der Erkenntnis, dass eine übergreifende Sicht auf die Logistik sowie die Planung und Kontrolle der Lieferkette erforderlich sind, bei der Verladerinnen und Verlader sowie Logistikdienstleister eng zusammenarbeiten, um effiziente Logistik- und Lieferkettenabläufe zu erreichen. ALICE arbeitet folglich mit allen unterschiedlichen Stakeholdern im Logistiksektor zusammen.
Der Verein Netzwerk Logistik (VNL) und das BMK vertreten Österreich in der „Mirror Group" der Mitgliedsstaaten und nationalen Clusterorganisationen.
ALICE arbeitet in fünf thematischen Gruppen, welche auch die Schwerpunkte von ALICE abbilden. Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsorganisationen tauschen sich zwei- bis dreimal im Jahr innerhalb dieser Gruppen aus:
- TG1: Sustainable Logistics Supply Chains
- TG2: Corridors, Hubs and Synchromodality
- TG3: Systems & Technologies for Interconnected Logistics
- TG4: Global Supply Network Coordination and Collaboration
- TG5: Urban Logistics
Österreichische Mitglieder in ALICE waren sind aktuell Gebrüder Weiss Gesellschaft m.b.H, Hofer KG, Productbloks GmbH sowie das Logistikum Steyr der FH Oberösterreich und Logistics Research Austria (LRA). Dabei unterstützt das BMK das LRA bei der Entsendung von österreichischen Expertinnen und Experten in die thematischen Gruppen von ALICE.
Darüber hinaus unterstützt das BMK den Verein Logistics Research Austria bei der Entsendung von Expertinnen und Experten aus den Mitgliedern in die thematischen Gruppen von ALICE.
Für österreichische Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die an Forschung, Technologie und Innovation zu Transportlogistik und im Güterverkehr auf europäischer Ebene interessiert sind, hat das BMK 2014 eine nationale ALICE-Spiegelgruppe ins Leben gerufen. Dort wird vor allem über aktuelle gütermobilitätsrelevante europäische und transnationale Ausschreibungen informiert sowie Forschungs-, Technologie- und Innovationsvorhaben mit österreichischer Beteiligung vorgestellt und diskutiert.
Link: ALICE Website
Wie aus dem vorangegangen Überblick ersichtlich ist, werden im Rahmen von „Mobilität der Zukunft" eine Reihe von Ansätzen unterstützt, die die Erforschung und Implementierung des Physical Internets im Bereich Gütermobillität zum Ziel haben.
Datum Veröffentlichung: 07.05.2021